Kamele der Großstadt

Neulich habe ich Fotos aus meiner Vergangenheit betrachtet. Die dauert bekanntlich immer länger, während die Zukunft immer kürzer wird,
aber darüber will ich heute nicht nachdenken. Nein, mir ist beim Betrachten etwas Anderes aufgefallen: Es fehlte etwas.

Zwar trugen Männer Hüte und Krawatten, Frauen Regenschirme und Dirndl, Jugendliche verwaschene Jeans und kurze Röcke. Alles ganz normal, ein wenig altmodisch halt, aber ein Kleidungsstück ging mir ab.

Und plötzlich war alles klar: Es fehlten die Wasserflaschen!

Während heutzutage kein Mensch länger als 30 Minuten überleben kann, ohne an einer Flasche zu nippen, scheinen damals die Menschen noch ausdauernd gewesen zu sein, sozusagen an wüstenartige Gegebenheiten angepasst. Selbst Spaziergänge von zwei, drei Stunden wurden, wenn ich mich richtig erinnere, ohne Zufuhr von Flüssigkeit zurückgelegt beziehungsweise reichten die zahlreich vorhandenen Brunnen und Bäche, um bisweilen einen Schluck Wasser zu nehmen.

Irgendwann im neuen Jahrtausend hatte, so vermute ich, ein cleverer Verkaufsmensch eine Idee: Wir weisen die Menschen darauf hin, dass man ohne Wasser nicht mehr als drei Tage überleben kann. Außerdem erklären Mediziner und andere vertrauenswürdige Experten, dass zwei bis drei Liter täglich nötig sind, um gesund zu bleiben. Noch besser ist es, wenn die Flüssigkeit angereichert ist mit Mineralien. Das verkaufen wir dann in kleinen Flaschen, die in jedem Rucksack Platz haben.

Und so geschah es!

Ärzte und Ernährungswissenschafter wurden nicht müde zu betonen, dass der Mensch überwiegend aus Wasser besteht und daher ununterbrochen mit ihm versorgt werden muss. Angeblich wurden in Großbritannien Schüler sogar dazu aufgefordert, täglich acht Gläser Wasser zu trinken.

Trink, trink, Brüderlein, trink!

Auch an meiner Schule verkündete ein Arzt diese frohe Botschaft. Besonders gefährdet seien Alte, weil sie in ihrer Vergesslichkeit schon mal auf eines der acht Gläser Wasser vergessen würden. Noch schlimmer, fügte er hinzu, sei der Konsum von Café — jede Tasse erfordere sofort den Nachschub mindestens eines Glases Wasser, weil man andernfalls dehydriere, innerlich austrockne, also ständig an der Schwelle zum eigenen Ableben stehe.

Ein wahrer Schock für mich, der ich täglich fünf bis acht Tassen Espresso zu mir nehme. Wenn ich zu den drei Litern Wasser folgerichtig noch weitere zwei Liter konsumiere, werde ich den Rest des Tages auf der Toilette verbringen, hätte ich gedacht.

Hätte, weil ich glücklicherweise einige Tage vor dem medizinischen Vortrag in unserer Schule einen Artikel gelesen hatte, der darauf hinwies, dass Café mitnichten dehydriere.

Mit dieser Erkenntnis gewappnet wendete ich mich an den Arzt und fragte ihn, ob er die Untersuchung kenne, nach der Cafétrinker nicht sofort die gleiche Menge an Wasser hinunterstürzen müssen, um zu überleben.

Ja, er habe davon gehört. Aber das sei nicht so wichtig, Hauptsache, es wird mehr getrunken.

Seither bin ich von Menschen umzingelt, die wie Kamele der Großstadt ständig einen Vorrat an Flüssigkeit mit sich führen. Statt evolutionstechnisch entwickelten Höckern haben sie sich Rucksäcke zugelegt, die bereits Vorrichtungen für den Überlebenskampf in Form mitgeführter Flaschen bereitstellen. Ob in Einkaufshäusern oder in Fußgängerzonen, ständig nuckeln Frauen und Männer an Plastikflaschen, als könnten sie den Trennungsschmerz von der Milchflasche nicht ertragen.

Manche haben mit einer Flasche nicht genug, sondern tragen, wie einst mexikanische Revolutionäre ihre Munition, bereits mehrere Fläschchen in einer Art Patronengurt mit sich. Vor allem Läufer gehen so bewaffnet auf ihre Laufstrecke und ziehen während ihrer Aktivität blitzschnell, einem Lucky Luke des Gesundheitswahns gleich, ein Fläschchen, gurgeln während des Laufens den Inhalt hinunter, um ja keine Zeit zu verlieren – und keuchen danach weiter, sich dem Herzinfarkt Schritt für Schritt nähernd.

Ich erinnere mich an meine Jugend, als wir mehrstündige Trainingseinheiten ohne Zufuhr von Wasser absolvierten und unseren Durst erst danach stillten, manche mit ein bis zwei Krügeln Bier, manche mit Apfelsaft, jedenfalls ohne künstliche Mineralstoffe.

Ein Wunder, dass wir überlebten!

Oder ein ganz normales Phänomen? Die schottische Medizinerin Margaret McCartney vermutet, dass vor allem der Konzern Danone mit seiner Kampagne „Hydration for Health“ dafür verantwortlich ist, dass wir uns knapp am Verdursten wähnen, wenn wir nicht permanent trinken. (Danone verkauft übrigens die Mineralwasser Volvic und Evian.)

Eine interessante Interpretation, die sich mit meinen Erinnerungen an eine sportliche Jugend deckt. Tatsächlich liefen mein Freund und ich sogar morgens, vor der Schule, eine Stunde (!) einen Berg hinauf und wieder hinunter, ohne zu trinken! Zwar dämmerten wir danach während der Unterrichtsstunden vor uns hin, aber das lag am Unterricht, nicht am Laufen.

Unseren Durst stillten wir bei Bedarf. Und nicht, weil ein Marketing-Konzept uns das geraten hat.

Und plötzlich bekommt der Begriff „Kamel“ wieder jene Bedeutung, die umgangssprachlich mit einem Menschen verbunden wird, der — na, sagen wir es freundlich — nicht mit großer Geisteskraft gesegnet ist.

Damit tun wir dem Tier sicher unrecht, aber möglicherweise trifft es den Zustand der Flaschenträger ganz gut.